Dienstag, 5. Oktober 2021

Bewaffnete Konfrontationen: „Don’t let him win from the Grave“

 

Analysiert man bewaffnete Konfrontationen und die Lektionen, die der Überlebende daraus mitnimmt, kristallisieren sich immer wieder zehn Punkte heraus. Relativ unerheblich ist dabei, ob es sich um Konfrontationen im privaten Umfeld handelt oder beim Militär

Von Arne Mühlenkamp


1.) BAD (I): Brutalste Gewalt
Das Akronym BAD steht für brutal, aggressiv, dynamisch. Hat die Konfrontation und damit der Kampf ums eigene Leben begonnen, müssen sich alle Handlungsweisen an diesen drei Punkten ausrichten. Rücksichtslose Gewaltanwendung ist das Motto. Die Fähigkeit, gewissermaßen auf Knopfdruck Gewaltbereitschaft herstellen zu können und Gewalt in brutalster Form anzuwenden, ist nach Darstellung derer, die schwere Konfrontationen überlebt haben, ein Schlüsselelement.

2.) Imagination
Mentalkonditionierung durch Imagination ist eine bewährte Methode, um Hochstressphasen nicht nur planbarer zu gestalten, sondern auch den eigenen Erfolg wahrscheinlicher werden zu lassen. Im Leistungssport bspw. findet Imagination als Trainingsmethode regelmäßig Anwendung. Wenn auch mit dem Unterschied, dass Leistungssportler mit Ausnahme bei sog. Extremsportarten selten um ihr Leben fürchten müssen. Beim Imaginationstraining wird geistig ein Video erstellt, wie das eigene Handeln in einer bestimmten Situation (in diesem Fall einer bewaffneten Konfrontation) im Idealfall ablaufen soll. Die Sequenz sollte etwa sechzig Sekunden umfassen, wobei zwei Blickwinkel denkbar sind: Entweder aus eigener Sicht oder aus Sicht eines Dritten (man sieht sich selbst handeln). Die Sequenz sollte außerdem immer zu einem neutralen Zeitpunkt beginnen (nicht mitten in der Konfrontation) und natürlich mit einem positiven Resultat enden.
Der US-amerikanische Schießausbilder und ehemalige Delta-Force-Angehörige Paul Howe ergänzt darüber hinaus noch in seinem Buch „Leadership and Training for the Fight“, dass er bei seinem Mentaltraining immer davon ausgegangen ist, dass es ein harter Kampf wird. Dass er einen Gegner haben wird, der genauso gut vorbereitet ist und den gleichen Willen zum Sieg hat wie er. Einen Gegner, den man sprichwörtlich „in Stücke schießen muss“, um zu gewinnen.

3.) Selbstschutz (materiell)
Die greifbarste Maßnahme für den eigenen Schutz, ist das Tragen einer Schutzweste. Von Beteiligten einer Scheißerei wird die Schutzweste regelmäßig als Lebensretter klassifiziert. Mitunter weißt die Weste im Nachgang Treffer auf, die tödliche Wirkung gehabt hätten. Was im militärischen und teils auch im polizeilichen Bereich zur Routine geworden ist, stellt sich für einen Privatier problematischer dar. Zwar ist, zumindest in der Bundesrepublik, die Verfügbarkeit von Schutzwesten aller Schutzklassen gegeben, das permanente Tragen lässt sich jedoch kaum in den privaten Alltag integrieren.

4.) Der (unfaire) Vorteil
„Always cheat always win“, eine Erfahrung, die bei vielen verteidigungsorientierten Ausbildungen zum Lehrinhalt geworden ist. Ritterlichkeit und Edelmut muss man sich in einer Konfrontation leisten können. Oder wie es der US-Ausbilder James Yeager von Tactical Response einmal formulierte: „Befindest Du Dich in einem fairen Fight, wendest Du die falsche Taktik an.“
In jeder Konfrontation gibt es den Augenblick, in dem das Gegenüber abgelenkt ist. Diese Zeitfenster sind kurz und selten. Sie müssen aber genutzt werden, um sich selbst den unfairen Vorteil zu verschaffen.

5.) Ausrüstungs(un)abhängigkeit
Ausrüstungsaberglaube ist eine typisch US-amerikanische Betrachtungsweise mit einer Überwertung von Ausrüstungsgegenständen. Wenn etwas nicht klappt, dann war die Ausrüstung nicht spezialisiert genug. Jeder Ausrüstungsgegenstand kann seinen Dienst versagen und wird das typischerweise zu einem Zeitpunkt tun, an dem er dringend benötigt wird. Im Training eine grundsätzliche Ausrüstungsunabhängigkeit herzustellen, ist das Ziel. Im Bereich der Schusswaffenanwendung ist es daher belanglos, ob die Waffe das neuste Leuchtpunktvisier mit dem innovativsten Absehen hat oder, ob das Kaliber speziell für Selbstverteidigungszwecke konstruiert wurde. Solange es eine Schusswaffe ist, die vorhanden ist und zuverlässig funktioniert, wird sie dem Zweck weitestgehend entsprechen. Versagt die Schusswaffe ihren Dienst, werden andere Hilfsmittel für die Gewaltanwendung eingesetzt. Diese Transition sollte Bestandteil des Imaginationstrainings sein. Zwischen zwei gleichwertig ausgerüsteten Opponenten entscheidet letztlich der Trainingsvorteil über Sieg oder Niederlage.

6.) Erkannte Schwächen
Es gehört zur menschlichen Natur, vorwiegend die Dinge zu trainieren, die man gut kann. Und die Dinge zu vernachlässigen, die man weniger gut beherrscht. Die Trainingssitzung wird mit einem guten Gefühl beendet. In einer realen Konfrontation jedoch wird sich dieser Selbstbetrug rächen. Die eigenen Schwächen zu analysieren und einem Trainingsplan zu folgen, der insbesondere auf diese Schwächen fokussiert, ist eine weitere zentrale Aussage aller Berichte zum Thema.
Entscheidend ist nicht der Wille zum Sieg. Sondern der Wille zur permanenten Vorbereitung auf die mögliche Konfrontation.
Die Verfügbarkeit von Trainingszeit darf nicht dem Zufall überlassen werden. Neben dem Tagesgeschäft und anderen Verpflichtungen sollte ein definiertes Zeitpensum für das eigene Training budgetiert worden sein; für Mentaltraining, körperliche Fitness, fachspezifische Themen und externe Weiterbildungen. Übernimmt die Dienststelle keine Kosten für externe Ausbildung, dann müssen externe Weiterbildungen aus eigener Tasche bezahlt werden. Das Ganze ist eine Investition in sich selbst.

7.) Körperliche Fitness
Körperliche Fitness ist Grundvoraussetzung. Ein leistungssportähnliches Niveau abrufen zu können, ist gleichwohl nicht erforderlich. Allerdings sollte ein kurzer oder längerer Sprint machbar sein. Genauso wie das Heben und Tragen einer schweren Last. Ein Sprung über ein Hindernis oder aus zwei bis drei Meter in Tiefe, sollte verletzungsfrei zu bewerkstelligen sein. Das Training von funktionaler Kraft bei einer altersgerechten Belastung sollte regelmäßig, d.h. täglich oder aller zwei Tage erfolgen.

8.) BAD (II): Bis die Lichter ausgehen…

Der Kampf ist erst vorbei, wenn die Lichter ausgehen. Entweder bei einem selbst oder vorzugsweise beim Gegner. Paul Howe beschreibt das in seinem Buch wiederum als: „Fight through“ Mentalität. Auch dieser Punkt lässt sich durch Mentalkonditionierung und Imagination trainieren und verbessern. Brutal, aggressiv, dynamisch.

9.) Wundversorgung
Die Wahrscheinlichkeit in einer bewaffneten Konfrontation verletzt zu werden, ist hoch. Grundkenntnisse in der Wundversorgung zu besitzen, wird ebenfalls von allen Beteiligten als wesentlich umrissen. Das Thema hat aufgrund der öffentlichen Rezeption des militärischen Tactical Combat Casualty Care (TCCC) dankenswerterweise an Komplexität verloren. Es gibt eine Vielzahl von Seminaranbietern, die sich mit präklinischen Erste-Hilfe-Maßnahmen befassen. Grundkenntnisse im Bereich der Wundversorgung zu erwerben, gelingt bereits während eines Tagesseminars. Entsprechende Ausrüstung kann in Kleinstverpackungen permanent mitgeführt werden. Das Ziel ist, trotz lebensbedrohlicher Verwundung, die Zeitspanne von 20 bis 30 Minuten bis zum Eintreffen eines Notarztes zu überbrücken.

10.) „Don’t let him win from Grave“
Eine Schießerei ist nie mit dem letzten Schuss beendet. Der US-amerikanische Schießausbilder Gabe Suarez formulierte einmal das Konstrukt, dass nach dem eigentlichen „Fight“ noch der juristische Kampf sowie der emotionale Kampf folgen werden. Selbst wenn der Kampf ums eigene Leben gewonnen wurde, wird nicht selten der emotionale Kampf verloren. Mitunter erst viele Jahre später. Jahre, die von Selbstzweifel und Schuldgefühlen geprägt waren. Der Kampf ist vorbei. Du hast gewonnen. Ende des Dramas. „Lass den Gegner nicht aus dem Grab heraus gewinnen“, ist vermutlich die einprägsamste dieser zehn Lektionen.


Literaturempfehlungen


Paul R. Howe: Leadership and Training for the Fight
Taschenbuch: 464 Seiten
Verlag: Skyhorse Publishing (2011)
Sprache: Englisch
ISBN-13: 978-1616083045
Preis: ca. 14 Euro




Jason Selk: 10-Minutes Toughness
Taschenbuch: 200 Seiten
Verlag: McGraw-Hill Education (2008)
Sprache: Englisch
ISBN-13: 978- 0071600637
Preis: ca. 20 Euro


Bewaffnete Konfrontationen (1): Fallanalysen

 

 

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