Für diesen Beitrag der Reihe Gewehrkonzepte hat Waffenkultur ein Stück Kulturgeschichte analysiert. Es existiert vermutlich kein anderes Gewehr, dass so uramerikanisch ist, wie das Long Rifle
Riflemen greifen in der Schlacht bei Saratoga britische Truppen aus Deckungen in der Flanke an (Künstler: H. Charles McBarron Jr.) |
Von Christian Väth
Was macht eine Waffe „uramerikanisch“? Diese Frage wird mit einem Schmunzeln beantwortet: Keine technische Komponente an diesem Gewehr konnte im 18. Jahrhundert als Innovation bezeichnet werden. Die ersten Exemplare wurden von deutschsprachigen Siedlern gefertigt, die Rohstoffe und Bauteile kamen aus Europa. Selbst die entsprechende Einsatztaktik wurde anteilig der Kampfweise der Ureinwohner und der in Europa bereits 100 Jahre zuvor aufgestellten Jägertruppen entlehnt. Geht es amerikanischer? Wohl kaum.
Nahaufnahme des Steinschlosses eines nachproduzierten Long Rifle aus dem 20. Jahrhundert (Foto: Rock Island Auction Company) |
Taktisches Problem
Die Kolonien der Neuen Welt verfügten nicht über die breitgefächerte Rüstungsindustrie, die in Europa bereits große Mengen an Waffen und Wehrmaterial erzeugen konnte. Zeitgleich hatten die Siedler vor allem im Landesinneren einen ständigen Bedarf an Waffen zur Selbstverteidigung und Jagd. Flächendeckend kamen hier vorwiegend Musketen aus britischer und französischer Produktion zur Anwendung. In den entlegeneren Gebieten und in Kriegszeiten war der Nachschub an Waffen und Ersatzteilen nicht immer gesichert. Die gängigen Langwaffen der Zeit waren meist von verhältnismäßig großem Kaliber, um die gewünschte Wirkung über die Geschossmasse zu erreichen. Die Jäger des Niemandslandes benötigten jedoch präzise Waffen von geringem Gewicht und genügend Munition für längere Zeiträume.
Ein North Carolina Long Rifle im Kaliber .40, hergestellt zu Beginn des 19. Jahrhunderts (Foto: Cowan’s Auctions) |
Konzeptentwicklung
Die Infanterietaktik des 18. Jahrhunderts sah Feldschlachten von linienförmigen Truppenkörpern vor. Die Ausbildung der Soldaten legte Wert auf diszipliniertes, einheitliches Handeln und schnelle Nachladevorgänge. Die militärischen Musketen dieser Tage waren in geübten Händen zu etwa vier Schuss pro Minute in der Lage. Dabei gab der Schütze keinen gezielten Schuss auf ein bestimmtes Ziel ab, sondern hielt grob über den Lauf in die gegnerischen Reihen. So sollte der Gegner durch schnell aufeinander folgende Salven (engl. volley fire) dezimiert werden. Die Feuergeschwindigkeit wurde wesentlich von der Geschwindigkeit des Nachladevorganges bestimmt. Die Trefferwahrscheinlichkeit war unter diesen Umständen weit geringer, als man es sich unter dem Eindruck moderner Waffentechnik heute vorstellt: Es war nicht unüblich, dass trotz einer Kompaniesalve auf nur 150 Metern Entfernung lediglich eine Handvoll Gegner getroffen wurden. Die Entscheidung in der Schlacht wurde daher in den meisten Fällen weiterhin durch den Nahkampf mit Bajonetten und/oder durch Kavallerieattacken herbeigeführt. Die Farmer und Pelzjäger der amerikanischen Kolonien waren für diese Kampfweise wenig geeignet, da sie eine völlig andere Waffenhandhabung gewohnt waren. Jeder Gewehrschütze (engl. rifleman) wurde dazu erzogen mit dem ersten Schuss treffen zu müssen, da das Wild einem selten eine zweite Gelegenheit bot. Ihre Waffe war zwar präzise, aber vergleichsweise kompliziert und langwierig nachzuladen. Ihre Reichweite war jedoch überlegen: Während Musketentreffer jenseits der 100 Meter eher unwahrscheinlich waren, konnte ein geübter Schütze mit einem Long Rifle noch bis auf 300 Meter sein Ziel sicher treffen.
Der Farmer tauscht seinen Pflug gegen eine Langwaffe. Statue eines Minute Man (Foto: City of Concord, New Hampshire) |
Einsatzgrundsätze
Die Schaffung von militärischen Jägertruppen (franz. chasseurs / engl. riflemen) war anfangs vor allem eine Maßnahme der Zeit- und Kosteneffizienz. Durch die Auswahl von bereits im Treffen, selbstständigen Handeln und dem Überleben in der Natur bestens geübtem Personal, konnte die Individualausbildung drastisch gekürzt werden. Diese Einheiten waren jedoch nie so zahlreich, dass sie alleine ein vollständiges Heer hätten bilden können. Stattdessen ergänzten sie die Linieninfanterie durch ihre Kampfweise. Die leichten Infanterieeinheiten kämpften im Zuge der feindlichen Verbindungs- und Nachschublinien aus dem Hinterhalt. Nur wenige Dutzend Männer reichten aus, um die Logistik des Gegners zu stören und empfindliche Verluste zu verursachen. So erschossen die Riflemen wann immer möglich zuerst Offiziere und Unteroffiziere, die nicht so einfach zu ersetzen waren. Bei dieser Taktik mussten sie stets ihren Reichweitenvorteil ausspielen, um Verluste durch gegnerisches Feuer oder eine Verzahnung mit den britischen Bajonetten zu verhindern. Außerdem wurde das Gelände und natürliche Tarnmöglichkeiten genutzt, um die eigenen Positionen und die genaue Stärke zu verschleiern. In der Feldschlacht wurden Jägereinheiten zur Aufklärung voraus, sowie in besonderem Gelände und in den Flanken eingesetzt. In den elementaren Grundzügen haben sich diese Einsatzgrundsätze der leichten Infanterie trotz der Waffenentwicklungen bis heute kaum verändert.
Technik
Ende des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurden in kleinen Büchsenmacherwerkstätten durch Siedler aus den deutschsprachigen Ländern Jagdbüchsen nach europäischem Vorbild gefertigt. Der weite amerikanische Westen stellte jedoch andere Anforderungen an ein Jagdgewehr als das bereits recht dicht besiedelte, stark bewaldete und mitunter alpine Mitteleuropa. Um auf den langen Jagdexpeditionen genügend Munition mitführen zu können, wurden kleinere Kaliber gewählt (zwischen .32 und .45), dafür jedoch lange, gezogene Läufe hergestellt. Im Ergebnis waren die Geschosse schneller und die Visierlinie länger, was zum Reichweiten- und Präzisionsvorteil des Long Rifle gegenüber den militärischen Musketen führte. Das Funktionsprinzip der Zündung war weitestgehend gleich: Wie auch bei den Infanteriewaffen dieser Zeit wurde das Steinschloss verwendet. Dabei schlägt ein eingespannter Feuerstein auf eine Metallklappe die Funken erzeugt und das in der darunter liegenden Pfanne befindliche Schwarzpulver entzünden (siehe Abbildung). Durch einen Zündkanal zum Lauf wird die Treibladung gezündet und das Geschoss beschleunigt. In das gezogene Rohr wurde dazu eine beträchtliche Menge Pulver gefüllt, gefolgt von einem gefettetem Stück Stoff und der Kugel. Ein gezogenes Rohr bot zwar offensichtliche Vorteile, musste jedoch auch gewissenhafter und regelmäßiger gereinigt werden. Sowohl Schloss als auch Lauf wurden vorgefertigt oder als Rohlinge aus Europa bezogen. Das Gewehr wurde dann in Handarbeit maßgefertigt, wobei das Schaftholz mitunter die einzige einheimische Ressource darstellte. Auf den Boden gestellt sollte das Long Rifle bis auf Kinnhöhe des Schützen reichen, um ihm das Laden noch zu ermöglichen (Blick auf die Mündung), aber trotzdem ein möglichst langes Rohr zur Verfügung zu haben. Diese Fertigungsweise dauerte zwar länger und verringerte die möglichen Stückzahlen, allerdings waren alle Arbeiten mit einfachen Werkzeugen durchführbar. Die hierfür benötigten einfachen Werkstätten konnten überall errichtet werden. Durch die Standorte der bekanntesten Long Rifle-Büchsenmacher sind diese Waffen auch als Kentucky oder Pennsylvania Rifle bekannt.
Fazit
Das Long Rifle stellte tatsächlich eine kleine Revolution in der Kriegführung dar. Der einzelne Mann und seine Feuerwaffe waren erstmals in der Lage einer konventionellen Übermacht entgegenzutreten: Unter günstigen Bedingungen konnte der Gewehrschütze erfolgreich sein. Die irregulär kämpfenden Riflemen machten das Konzept der leichten Infanterie weltbekannt und agierten nach Grundsätzen, die zum Teil noch heute Gültigkeit haben. Weder die Mechanisierung des Krieges noch die Atombombe haben bislang diese Kampfweise obsolet werden lassen. Daran werden vorerst vermutlich die technologischen Entwicklungen des 21. Jahrhunderts auch nichts ändern.
Gewehrkonzepte (1): Mk 12 Special Purpose Rifle
Gewehrkonzepte (2): Infantry Automatic Rifle
Gewehrkonzepte (3): Anti-Material-Gewehr
Gewehrkonzepte (4): Der Karabiner
Gewehrkonzepte (5): Cooper’s Scout Rifle
Gewehrkonzepte (6): Die Panzerbüchse
Gewehrkonzepte (7): Long Rifle
Gewehrkonzepte (8): Liberty Training Rifle
Gewehrkonzepte (9): Das Sturmgewehr
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