Montag, 10. Februar 2020

Gewehrkonzepte (2): Infantry Automatic Rifle


Es sieht aus wie ein Sturmgewehr, aber es ist keines. Das Konzept des Automatikgewehrs ist ein Wiedergänger in den letzten 100 Jahren waffentechnischer Entwicklung


Von Christian Väth

Unabhängig von Nationalität, Ausrüstung, Doktrin und Weltanschauung gilt für Infanteriekräfte weltweit ein gemeinsamer Nenner: Der Grundsatz von Feuer & Bewegung. Niemand bewegt sich irgendwohin, ohne überwacht zu werden. Wenn es zum Feuerkampf kommt, wird das Feuer auch für eigene Bewegungen genutzt. Auf niedrigster taktischer Ebene ermöglicht das Maschinengewehr seit über 100 Jahren die Umsetzung dieses Einsatzgrundsatzes.

Taktisches Problem
Im Ersten Weltkrieg kam es zum ersten massenhaften Einsatz von Maschinengewehren. Anfang des 20. Jahrhunderts waren diese Waffen noch außerordentlich schwer. Um einen schnellen Stellungswechsel zu ermöglichen und diese Kriegsmittel auch im Angriff einsetzen zu können, musste das Gewicht drastisch reduziert werden. Die US-amerikanischen Streitkräfte setzten bei Kriegsende zu diesem Zweck das „leichte“ Maschinengewehr M1918 Browning Automatic Rifle (BAR) ein – mit fast zehn Kilogramm Kampfgewicht. Das Magazin für 20 Patronen erwies sich für diesen Einsatzzweck als zu klein, das Gewicht war zu hoch und der Lauf überhitzte zu schnell. Trotzdem blieb das Gewehr bis zum Beginn des Vietnamkrieges in den Beständen. In kleineren Stückzahlen setzte das Russische Reich (Fedorov Avtomat) zur gleichen Zeit eine ähnliche Waffe ein, vergleichbare Konzepte kamen im Zuge des Zweiten Weltkrieges auf (AVS-36 in der Sowjetunion und das FG 42 im Deutschen Reich). Abgelöst wurde das BAR vom M60 Maschinengewehr, einem Universalmaschinengewehr nach deutschem Vorbild. In den 1980er-Jahren wurden in der US Army und bei der Marineinfanterie automatische Waffen in größeren NATO-Kalibern durch leichte Maschinengewehre (engl. squad automatic weapons – SAW) ersetzt. Diese Waffen weisen fast identische Merkmale auf wie ihre großen Brüder: Schnell zu wechselnder Lauf, Gurtzuführung und ein Zweibein. Hinsichtlich des Gewichts ist jedoch kein Fortschritt erkennbar – zwar bringt ein heutiges M249 SAW deutlich mehr Feuerkraft in Form eines großen Patronengurtes mit, es wiegt aber immer noch zehn Kilogramm. Moderne Infanteriekräfte sind allerdings hoffnungslos überladen. Tatsächlich trägt der Infanterist von heute so viel Ausrüstung, Munition und Kampfmittel mit sich herum, wie keiner seiner Vorfahren. Gewichtsreduktion in allen Bereichen führt zu einer erhöhten Kampfkraft, längerer Durchhaltefähigkeit und ist mittlerweile zur absoluten Notwendigkeit geworden.

Bedienelemente und Referenzpunkte sind deckungsgleich mit denen des Sturmgewehrs – das spart wertvolle Ausbildungszeit (Foto: United States Marine Corps)


Konzeptentwicklung
Ein normales Sturmgewehr ist nicht das richtige Werkzeug, um Gegner mit Dauerfeuer niederhalten zu können – für diese Belastungen sind diese Waffen nicht konstruiert worden. Die moderne Interpretation des Automatic Rifle verlangt nach einem Gewehr, welches in der Handhabung vom Sturmgewehr kaum abweicht. Dadurch reduziert sich die Ausbildungszeit – vermutlich die kritischste Ressource moderner Armeen. Es muss eine hohe Schussbelastung in kurzer Zeit tolerieren können und im Dauerfeuer kontrollierbar bleiben. Die Magazine der Sturmgewehre sollten mit diesem Gewehr nutzbar sein, dementsprechend stellt sich auch keine Kaliberfrage. Die Nachladezeit reduziert sich deutlich (einen Gurt einzulegen dauert länger als ein Magazin zu wechseln) und der Rohrwechsel fällt weg. Je nach Einsatzart bleibt der Schütze länger im Feuerkampf. Im Jahre 1999 konkretisierte das United States Marine Corps erstmals seinen Bedarf an einem „light automatic rifle“. Sechs Jahre später wurde das Beschaffungsprogramm für ein Infantry Automatic Rifle gestartet, als Leitverband für alle Feldversuche wurde das 2. Bataillon des 7. Marineinfanterieregiments ausgewählt. In die engere Auswahl kamen zwei Varianten von Colt, ein modifiziertes SCAR von Fabrique National Herstal und eine Version des HK416 von Heckler & Koch. Seit 2010 wurden einige tausend Gewehre des letzten Herstellers als Sieger der Ausschreibung beschafft und als M27 Infantry Automatic Rifle eingeführt.

Ein guter Ausbilder sagte einmal: „Ein Zweibein am Sturmgewehr ist der Beginn des Kommunismus“ – alleine deshalb kann ein so konfiguriertes M27 diese Rolle nicht einnehmen (Foto: United States Marine Corps)


Einsatzgrundsätze
Der Automatikschütze erfüllt taktisch gesehen die gleiche Rolle, wie der leichte Maschinengewehrschütze: Er hält Gegner durch Dauerfeuer nieder, um den Gewehrschützen die Möglichkeit zum Stellungswechsel zu geben. Hier kann es nun bei zwei oder gar drei vorhandenen Automatikgewehren in der Gruppe zwei Ansätze geben. In der ersten Variante werden diese Schützen zu einem Deckungselement zusammengefasst und können über einen verhältnismäßig langen Zeitraum das Feuer aufrechterhalten, indem sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten beginnen zu schießen. So ist gewährleistet, dass mindestens ein Schütze immer schießt während die anderen nachladen. In der zweiten Variante erhält jeder Trupp einen solchen Schützen und während er nachlädt übernehmen die Gewehrschützen sein Feuer - wie bisher beim Rohrwechsel, Nachladen und Störung des Maschinengewehrs auch. Letztere Variante ist in der Grundgliederung der Infanteriegruppe des USMC implementiert. Die 13-Mann starke Gruppe besteht aus einem Gruppenführer und drei gleich gegliederten Vier-Mann-Trupps (engl. fire team) mit je einem Truppführer, zwei Gewehrschützen (einer davon mit Granatwerfer im Kaliber 40 x 46 mm) und einem Automatikschützen. Ein wesentlicher Vorteil: Der M27-Schütze ist optisch nicht mehr vom Gewehrschützen zu unterscheiden und wird so seltener zum lohnenden Ziel. Die kommenden Konflikte werden zeigen, ob sich das IAR-Konzept des United States Marine Corps oder das derzeit anlaufende Programm Next Generation Squad Weapon der US Army durchsetzen kann. In dieser Beschaffung soll eine Neuentwicklung in zwei Varianten (Rifle / Automatic Rifle) die bisherige Gruppenbewaffnung gänzlich ablösen und zeitgleich ein neues Kaliber (6,5 mm General Purpose Projectile) eingeführt werden. Das deutsche Heer bleibt vorerst, ebenfalls aus guten Gründen, mit dem Maschinengewehr MG5 bei einem Universalmaschinengewehr im größeren NATO-Kaliber 7,62 x 51 Millimeter.

Seit Jahrzehnten sind in den ehemaligen Staaten des Warschauer Paktes leichte Maschinengewehre mit Magazinzuführung in der Nutzung – seit 2017 laufen russischen Behörden die ersten RPK-16 als neueste Variante zu (Foto: Kalashnikov Concern)


Technik
Im Vergleich zum leichten Maschinengewehr M249 ist das M27 sogar zu einer etwas höheren Kadenz von 900 Schuss pro Minute in der Lage, allerdings liegt das reale Feuervolumen deutlich niedriger, da die Magazine nur 30 Patronen enthalten. Die Beschaffung von Trommelmagazinen wurde erwogen, allerdings erfüllt derzeit noch kein marktverfügbares Produkt die militärischen Anforderungen an die Funktionssicherheit. Ergonomisch ist das M27 ein klarer Fortschritt: AR-15 Bedienelemente und verstellbare Schulterstütze erlauben eine unveränderte Umsetzung der Schießtechnik, wie bei einem Sturmgewehr. Einer der größten Vorteile ist jedoch das mehr als halbierte Gewicht – feuerbereit wiegt die Waffe nur noch viereinhalb Kilogramm. Auch die Gesamtabmessungen sind deutlich reduziert, was dem Schützen mehr Manövrierfähigkeit in engen Räumen und in Fahrzeugen ermöglicht. Im Vergleich zum Sturmgewehr ist es jedoch weniger handlich, da es über einen 16,5-Zoll-Lauf verfügt. Aufgrund der im Vergleich zum M4A1 deutlich hochwertigeren Rohrverarbeitung und günstigeren Bettung ist das M27 IAR auch im Einzelfeuer auf längere Distanzen vermeintlich das bessere Werkzeug. Es wiegt allerdings fast das Doppelte, da es hohe Feuerraten über viele Magazine ohne Laufüberhitzung und Störungen aushalten muss. Theoretisch gesehen ist die Waffe von Heckler & Koch vielleicht das bessere Sturmgewehr – in der taktischen Realität jedoch nicht. Wie bei allen anderen HK416 Varianten ist das M27 ein Gasdrucklader mit Kurzhub-Gaskolbensystem. Zur Ausstattung gehören ein Harris-Zweibein, ein Zwei-Punkt-Trageriemen von Blue Force Gear sowie ein ACOG (TA11SDO / 3,5 x 35) von Trijicon mit einem aufgesetzten RMR-Reflexvisier des gleichen Herstellers. Ein Not-Eisenvisier ist ebenfalls vorhanden.

Fazit
Für den Kampf in zunehmend urbanen Umgebungen und schnell wechselnden Einsatzszenarien hat sich das Infantry Automatic Rifle innerhalb des letzten Jahrzehnts bewährt. Die Truppe ist begeistert von der Waffe. Deshalb hat die Führung des Marine Corps die Einführung des M27 für alle Infanteristen durchgesetzt, die Beschaffung soll bis 2021 abgeschlossen sein. Eine Zielfernrohrgewehrvariante (M38) des Systems ist bereits eingeführt, so dass in naher Zukunft jeder US-amerikanischer Marineinfanterist mit einem Gewehr von Heckler & Koch arbeiten wird, dass fast zwei Kilogramm schwerer ist, als sein altes M4A1. Durch diese Entscheidung wird der taktische Vorteil zumindest teilweise relativiert – hier wurde klar über das Ziel hinausgeschossen. Ein funktionales militärisches Beschaffungswesen sollte allerdings sich an taktischen Erfordernissen und einem Kostenrahmen orientieren. Genauso verhält es sich mit dem nächsten privaten Gewehrkauf.


Gewehrkonzepte (1): Mk 12 Special Purpose Rifle

Gewehrkonzepte (2): Infantry Automatic Rifle 

Gewehrkonzepte (3): Anti-Material-Gewehr 

Gewehrkonzepte (4): Der Karabiner

Gewehrkonzepte (5): Cooper’s Scout Rifle

Gewehrkonzepte (6): Die Panzerbüchse

Gewehrkonzepte (7): Long Rifle

Gewehrkonzepte (8): Liberty Training Rifle

Gewehrkonzepte (9): Das Sturmgewehr



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