Montag, 5. Oktober 2020

Gewehrkonzepte (6): Die Panzerbüchse

Größer geht nicht – in dieser Ausgabe befasst sich Waffenkultur mit einem Gewehrkonzept, dass sich an der Grenze des Tragbarem bewegt. Zu Recht fragt man sich: Ist das noch ein Gewehr oder schon eine Kanone?

Von Christian Väth

Im Ersten Weltkrieg erlebten deutsche Soldaten neben dem unsäglichen Leid der Massenschlachten an der Westfront auch die ersten Panzerangriffe der Kriegsgeschichte. Daher ist es nur logisch, dass die erste designierte Panzerabwehrwaffe in Deutschland entwickelt und hergestellt wurde – die Panzerbüchse.

 

Die britische Panzerbüchse im Kaliber .55 Boys in der
Mark I-Variante. Eine kürzere Mark II-Version wurde für
den Fallschirmsprungeinsatz beschafft (Foto: Rock Island Auction Company)




Taktisches Problem
Wenn der Ruf „Panzer!“ zu hören ist, weiß jeder Infanterist: Jetzt geht es um alles. Auch nach über 100 Jahren entfalten Panzerkampfwagen immer noch eine Schockwirkung bei ihren Gegnern. Allerdings stehen heute eine Vielzahl an Abwehrmitteln bereit, um die Stahlkolosse zu knacken. An der deutschen Westfront im Ersten Weltkrieg standen die Besatzungen der Schützengräben mit leeren Händen da. Zum Glück war der größte Feind des Panzers zu dieser Zeit noch die eigene Technik. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die neue Waffe jedoch immer zuverlässiger und leistungsfähiger. Unter diesem Eindruck führten alle Kriegsparteien bereits in den 1930er Jahren Panzerbüchsen in großen Stückzahlen ein, um der Infanterie auch in den kleinen Kampfgemeinschaften ein Abwehrmittel zur Verfügung zu stellen. Die größeren und leistungsfähigeren Panzerabwehrkanonen waren schließlich in den meisten Nationen als wertvolle Feuerunterstützung erst auf der Bataillonsebene zentral organisiert.

 

Deutscher Panzerbüchsentrupp an der Westfront
im Spätsommer 1918 (Foto: Imperial War Museum)




Einsatzgrundsätze
Der Panzerbüchsentrupp wies in seinem Einsatz Parallelen zum Maschinengewehrtrupp auf. Er benötigte aufgrund des höheren Kampfgewichts mehr Zeit, um sich in Stellung zu bringen. Genauso wie bei einem Maschinengewehr, musste immer eine Schießposition gefunden werden, die es erlaubte, den Gegner möglichst flankierend zu treffen. Von der Seite bieten Panzer das größte und damit ein leichter zu treffendes Ziel. Außerdem ist die Seitenpanzerung in den allermeisten Fällen deutlich schwächer als die Front. Bei entsprechend kurzer Entfernung waren auch Kettentreffer oder das Treffen bestimmter, typenspezifischer Schwachpunkte (Optiken oder Schwachstellen in der Panzerung) möglich. Um nicht das Feuer der Panzer auf sich zu ziehen, sollte nach nur wenigen Schüssen die Stellung schnellstmöglich gewechselt werden. Bei dem hohen Waffengewicht war dieses Vorgehen besonders kräftezehrend. Spätestens im dritten Kriegsjahr des Zweiten Weltkrieges verlagerte sich die Nutzung der Panzerbüchsen endgültig. Ab 1941 neu eingeführte Kampfpanzer waren durch diese Waffen schlicht nicht mehr zu knacken. Die in großen Stückzahlen vorhandenen Waffen wurden dann für leichter gepanzerte Fahrzeuge oder zur Zerstörung gegnerischer Ausrüstung aus der Distanz verwendet: Das Anti-Material-Gewehr war geboren (siehe Ausgabe 51).

 

Panzerbüchse 39 an der Ostfront 1941. Die zahlreichen
leichten Typen der sowjetischen Panzertruppe konnten
mit dieser Waffe noch bekämpft werden (Foto: BA 101I-283-0619-31)


 



Technik
Hinsichtlich der Funktionsprinzipien sind bei den Panzerbüchsen keine Überraschungen zu finden. Das Tankgewehr von Mauser war prinzipiell ein überdimensioniertes Gewehr 98, allerdings als Einzellader ohne Magazin. Das verbaute Zweibein (bei diesem Gewehrkonzept sinnig) ähnelte dem des MG 08/15. Die Waffe im Kaliber 13 x 92 Millimeter HR (Halbrandpatrone) verfügte über keinerlei rückstoßmindernde Bauteile. Es verwundert also nicht, dass der Schütze in der Regel bereits nach drei (!) Schuss ausgewechselt wurde. Verschossen wurde ein 52 Gramm schweres Geschoss mit Stahlkern. Die Durchschlagskraft genügte, um Panzerungen der ersten Generation 1918 zu durchschlagen (etwa zwölf Millimeter). Die Panzerkampfwagenentwicklung der 1930er Jahre ließ bereits erkennen, dass konventionelle Gewehrkonstruktionen langfristig nicht geeignet waren. Bis dahin gab es drei munitionstechnische Ansätze, die den Bau von Panzerbüchsen bestimmten: An erster Stelle stehen Waffen in der Kalibergruppe 12,7 bis 15 Millimeter (siehe Mauser T-Gewehr), die einen Gewichtskompromiss hinsichtlich der Waffe und der verwendeten Geschosse darstellten. International weniger verbreitet waren Hochgeschwindigkeitspatronen in bereits vorhandenen Gewehrkalibern. Die dritte Variante besteht aus Konstruktionen im Bereich des Kalibers 20 Millimeter. Im Folgenden werden die Vor- und Nachteile anhand jeweiliger Typen erläutert.

 

Die Panzerbüchse 39 war, so gut es ging, auf Mobilität
und schnelle Treffer ausgelegt. Man beachte die geöffneten
Munitionsboxen an beiden Seiten (Foto: BA 101I-208-0050-15A)


 

12,7 bis 15 Millimeter
Die britische Panzerbüchse im Kaliber .55 Boys (13,9 x 99 Millimeter) wurde von 1937 bis 1943 produziert. Wie beim T-Gewehr muss der Schütze den Verschluss manuell repetieren, allerdings war es etwas leichter (knapp unter 17 Kilogramm) und wurde aus einem Magazin mit fünf Patronen geladen. Wie beim Bren Maschinengewehr war das Magazin oben positioniert und die Visierung deshalb seitlich versetzt angebracht worden. Im Vergleich zum T-Gewehr reduzierten eine Mündungsbremse, eine gepolsterte Schulterstütze und eine Pufferfeder die Belastung für den Schützen. Einige Boys-Panzerbüchsen wurden im finnischen Winterkrieg eingesetzt, die Masse fand jedoch in alliierten Einheiten in Europa und im Pazifik Verwendung. Insgesamt wurden etwa 62.000 Stück in drei Versionen gefertigt. Zwei verschiedene Geschosse fanden Anwendung: Eine 60 Gramm schwere Stahlkernvariante (747 Meter pro Sekunde) und ein etwas leichteres, aber schnelleres Geschoss mit Wolframkern (47,6 Gramm und 884 Meter pro Sekunde). Weitere Beispiele für diese Waffengruppe waren die beiden sowjetischen Panzerbüchsen PTRD (Repetierer) und PTRS (Kurzhub-Gasdrucklader) – beide im Kaliber 14,5 x 114 Millimeter. Beide Konstruktionen sind recht ungewöhnlich: Das PTRD war ein Repetierer, verfügte aber über einen automatischen Hülsenauswurf, so dass der Verschluss zur Rückstoßkompensation gegen eine Pufferfeder lief. Die Munition für das PTRS, den wohl größten Kurzhub-Gasdrucklader aller Zeiten, wurde durch gigantische Ladestreifen geladen und verfügte bereits über einen Verschlussfanghebel. Die leistungsfähigste Patrone für diese Gewehre war die BS-41 mit der unter günstigen Bedingungen auf 100 Meter bis zu vier Zentimeter Panzerstahl durchschlagen werden konnten. So konnten bei entsprechend kurzer Entfernung und günstigem Winkel sowjetische und britische Panzerbüchsen den deutschen Panzerkampfwagen III bis zur Ausführung H durchschlagen. Gegen die leichter gepanzerten italienischen und japanischen Panzer blieben Panzerbüchsen bis zum Kriegsende von gewissem Nutzen.

Hochgeschwindigkeitspatrone
Nur die polnische Armee und die deutsche Wehrmacht setzten auf Panzerbüchsen in „kleineren“ Gewehrkalibern. Die Panzerbüchse 38 im Kaliber 7,92 x 94 Millimeter verschoss Stahlkerngeschosse mit einem Gewicht von 14,3 Gramm und einer enormen Anfangsgeschwindigkeit von 1.210 Metern pro Sekunde. Wie bei der sowjetischen PTRD wurde die Hülse des Einzelladers automatisch ausgeworfen. Es wurden allerdings nur etwas weniger als 2.000 Stück produziert, bevor die vereinfachte und leichtere Panzerbüchse 39 eingeführt wurde. Von dieser Waffe wurden fast 40.000 Einheiten gefertigt. Der automatische Hülsenauswurf fiel weg und das Gewicht war mit zwölf Kilogramm vergleichsweise gering. Um die Feuergeschwindigkeit des Einzelladers ohne Magazin zu erhöhen, konnten an beiden Seiten des Gehäuses Boxen für jeweils zehn Patronen angebracht werden. Der Lademechanismus der Panzerbüchse 39 wurde durch Abklappen des Pistolengriffes ausgeführt. Ein Tragegriff und eine abklappbare Schulterstütze sorgten dafür, dass diese Waffe von allen hier gezeigten Entwürfen am Ehesten den schnellen Stellungswechsel begünstigte. Die Durchschlagskraft auf 100 Meter Entfernung war mit maximal drei Zentimetern Panzerstahl allerdings begrenzt. Im Zuge der Panzerabwehrkrise an der deutschen Ostfront, die durch die Massenproduktion des sowjetischen T-34-Panzers ausgelöst wurde, war die Waffe endgültig obsolet. Als Akutmaßnahme wurden die Läufe gekürzt und mit Schussbechern versehen, um mittels Platzpatronen Hohlladungsgranaten verschießen zu können (Granatbüchse 39).

 

Die finnische Infanterie setzte die Lahti L-39 in den weitläufigen
Waldgebieten in Karelien vor allem aus dem Hinterhalt ein.
Bemerkenswert ist das kombinierte Zweibein (Foto: Morphy Auctions)



20 Millimeter
Im Vergleich zu den anderen beiden Ansätzen, können nur entsprechend große Patronen mit einer nennenswerten Sprengmasse versehen werden. So wird aus der Panzerbüchse eine vielseitigere Mehrzweckwaffe, die verschiedene Munitionstypen abfeuern kann. Die finnische Lahti L-39 im Kaliber 20 x 138 Millimeter war ein halbautomatischer Gasdrucklader – entsprechend schwer war das Ergebnis mit satten 50 Kilogramm. Das Ungetüm wurde aus einem oben angebrachten Magazin für zehn Patronen gespeist. Besonderheit: Nach jedem Schuss wurde der Verschluss in hinterster Stellung gehalten und musste vor dem nächsten Abkrümmen durch einen Hebel nach vorne gebracht werden. So wurde ein zügigeres Abkühlen des Systems sichergestellt. Zu jeder Waffe gehörten zwei verschiedene Zweibeine – ein reguläres und eine mit Skikufen ausgestattete Wintervariante. Die finnischen Infanteristen gaben dem Schwergewicht den Spitznamen „Norsupyssy“: Elefantengewehr. Etwa 1.900 Stück wurden bis Kriegsende produziert. Auf Basis der L-39 wurde ab 1944 eine vollautomatische Variante zur Abwehr von Tieffliegern eingesetzt. In der Praxis wurde diese Panzerbüchse meist von Zugtieren in Position gebracht – alleine ein einziges gefülltes Magazin wog sieben Kilogramm. Die L-39 wurde auch zum Schrecken sowjetischer Scharfschützen. Die finnische Infanterie zog mit Attrappen das Feuer auf sich, um mit der Panzerbüchse auf das Mündungsfeuer des Gegners zu schießen.

Fazit
Ob die Panzerbüchse tatsächlich noch als Gewehr zu klassifizieren ist, hängt vom Modell ab: eine Lahti L-39 ist mit fast 50 Kilogramm Kampfgewicht definitiv eine Waffe, die durch einen Trupp getragen und bedient werden muss. Hier ist die Panzerabwehrkanone schon der nähere Verwandte. Eine Panzerbüchse 39 ist mit zwölf Kilogramm schwer, aber tragbar. Allerdings handelte es sich bei allen Konstruktionen aus technischer Hinsicht um hochskalierte Gewehre nach bekannten Funktionsprinzipien. Der Mensch setzt hier die Leistungsgrenzen: Welchen Rückstoß kann man noch verkraften und wieviel Gewicht kann getragen werden? Für einen begrenzten Zeitraum von etwa 20 Jahren waren diese Waffen in der unmittelbaren Panzerabwehr wirksame Werkzeuge. Ab Ende der 1930er Jahre und der rasant fortschreitenden Entwicklung von Panzerkampfwagen konnten die Panzerbüchsen in ihrer ursprünglichen Rolle nur noch auf bestimmten Kriegsschauplätzen oder gegen andere Ziele eingesetzt werden. Die Transformation zum Anti-Material-Gewehr stellt jedoch den unveränderten Bedarf heraus: Mit welchem anderen Gewehrkonzept kann ein einzelner Mann Hubschrauber aus mehreren hundert Meter Entfernung am Abheben hindern?


Gewehrkonzepte (1): Mk 12 Special Purpose Rifle

Gewehrkonzepte (2): Infantry Automatic Rifle 

Gewehrkonzepte (3): Anti-Material-Gewehr 

Gewehrkonzepte (4): Der Karabiner

Gewehrkonzepte (5): Cooper’s Scout Rifle

Gewehrkonzepte (6): Die Panzerbüchse

Gewehrkonzepte (7): Long Rifle

Gewehrkonzepte (8): Liberty Training Rifle

Gewehrkonzepte (9): Das Sturmgewehr


 

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