Montag, 8. Juni 2020

Gewehrkonzepte (4): Der Karabiner


Die Definition dieses Gewehrkonzeptes ist umstritten. Dabei könnte es recht einfach sein: Der Karabiner ist eine kürzere, ansonsten aber funktionsgleiche Variante des jeweils eingeführten Standardgewehres. Die Waffenkultur hat sich mit den „kleineren Brüdern“ befasst

Von Christian Väth

Im deutschsprachigen Raum hat vor allem die offizielle Bezeichnung des Infanteriegewehrs der Wehrmacht für eine nachhaltige Begriffsverwirrung gesorgt: Der Karabiner 98k. Wie bei vielen anderen Waffensystemen im Dritten Reich erfolgte auch bei dieser Waffe die Namensgebung eher aus esoterisch-propagandistischen Gründen. Da der Kar 98k das Gewehr 98 nun endgültig ablöste und de facto zur neuen Standardwaffe wurde, handelte es sich hierbei nicht mehr um einen Karabiner. Tatsächlich war die millionenfach produzierte Mauser-Konstruktion das neue Standardgewehr. Die Bezeichnung „Karabiner“ ist allerdings nur zutreffend, solange noch ein größeres Standardgewehr eingeführt ist.

Der Paget-Carbine – ein Steinschloss-Karabiner der englischen Kavallerie Anfang des 19. Jahrhunderts (Foto: Royal Armouries)


Taktisches Problem
Obwohl ein längerer Lauf Reichweiten- und Wirkungsvorteile mit sich bringt, besteht der Krieg nicht nur aus Feuerkampf. Die meiste Zeit verbringt der Soldat wartend oder mit einer Vielzahl anderer Tätigkeiten, die häufig unter körperlicher Anstrengung (Marschieren, Schanzen, Sperren) oder in beengtem Raum (Transport, Leben in der Stellung) stattfinden. In fast allen Situationen bietet eine kompakte Langwaffe Vorteile im militärischen Alltag. Darüber hinaus benötigt nicht jeder Soldat für die Erfüllung seiner Aufgabe ein vollwertiges Gewehr. Trotzdem muss er nach dem Prinzip „every man a rifleman“ grundlegende infanteristische Aufträge übernehmen können. Doch der Bedarf an kürzeren Gewehren ist nicht auf Unterstützungskräfte oder Fahrzeugbesatzungen beschränkt: Militärische Führer wirken sich im Kampf durch schnelle Entscheidungen aus und weniger durch die eigene Beteiligung am Feuerkampf. Aufgaben wie die Selbstverteidigung auf kurze und kürzeste Entfernung, Richtungsschüsse und das Eröffnen eines Feuerüberfalls können auch mit einem Karabiner ausgeführt werden. Überall wo die Reichweite des Gewehres nicht ausgespielt werden muss und die Umgebung enge Räume erzeugt, ist eine kompaktere Waffe für alle Kämpfer von Vorteil. So profitiert zum Beispiel im Ortskampf plötzlich jeder von einem kürzeren, leichter zu handhabenden Gewehr.

Auch im Dschungelkampf bewährte sich das Konzept – diese inoffiziell „Jungle Carbine“ genannte Version des britischen SMLE wurde vor allem in Südostasien eingesetzt (Foto: Great North Guns)


Konzeptentwicklung
Ursprünglich wurden Karabiner für die Kavallerie entwickelt. An den Waffen angebrachte Ringe ermöglichten in der Kombination mit Haken die Befestigung am Reiter und zumindest in der Theorie auch den schnellen Schuss vom Pferd. Wirklichen Erfolg hatten diese Gewehre aber vor allem dort, wo meistens nicht oder mit anderen Waffen geschossen wurde: Pioniere, Artilleristen und andere Kampfunterstützer führten ihre Handwaffen sowieso nur zur Verteidigung auf kürzere Entfernungen mit. Hier wurden kompakte Gewehre zur willkommenen Arbeitserleichterung. Wirkliche Feuerkraft entwickelten Karabiner erstmals in der Form gekürzter Unterhebelrepetiergewehre. Als der moderne, industrialisierte Krieg auf der Krim im 19. Jahrhundert seine schaurige Premiere gab, konnten Karabiner ihre Vorteile im Grabenkampf ausspielen. Alle Konfliktparteien setzten daraufhin im Ersten Weltkrieg Kompaktversionen ihrer Standardgewehre ein. Die britischen Streitkräfte führten mit dem SMLE (Short Magazine Lee Enfield) sogar bereits 1904 querschnittlich ein kürzeres Gewehr ein, um nicht mehr zwei verschiedene Gewehrtypen nutzen zu müssen. Diesen Schritt gingen die deutschen Streitkräfte erst gute 30 Jahre später. Die Einführung verschiedener Langwaffen stellte auf den ersten Blick Herausforderungen an die Ausbildung durch die Einführung einer weiteren Waffe. Ersetzt der Karabiner jedoch bei ausgewähltem (Führungs-)Personal die zuvor übliche Pistole, wird die wertvolle Ausbildungszeit reduziert und die Kampfentfernung erhöht. Dabei müssen Bedienelemente und Handhabung möglichst dem Standardgewehr entsprechen. Heutzutage ist dieser Vorteil weitestgehend obsolet da mittlerweile vermehrt Pistolen als Zweitbewaffnung geführt werden. Neben der Ausbildung sollten auch die Baugruppen und notwendigen Ersatzteile eine größtmögliche Deckungsgleichheit aufweisen. So können die Auswirkungen auf die logistische Versorgungskette und die Instandsetzung gering gehalten werden.

Moderne Karabiner in rückstoßarmen Kalibern ermöglichen dem Schützen mehr Möglichkeiten in der Schießtechnik – der Autor in der Schießposition SBU Prone (Foto: Henning Hoffmann)


Einsatzgrundsätze
Es gab Anwendergruppen die bereits zur Zeit ihrer Entstehung mit Karabinern ausgestattet wurden. Dazu zählen die Gebirgsjäger und die Fallschirmjäger. Die österreichischen Gebirgstruppen wurden bereits vor dem Ersten Weltkrieg mit dem Stutzen M95a ausgestattet – einer kürzeren Variante des Infanteriegewehres Mannlicher 95 im Kaliber 8 x 50 Millimeter R. Die in den 1930er-Jahren entstehenden Fallschirmjägerkräfte verschiedener Nationen benötigten ebenfalls kompakte Waffen. Für die Luftlandekräfte wurden meist die bereits vorhandenen Maschinenpistolen (MP 40, Sten, Thompson) und einige wenige Neuentwicklungen (M1 Carbine, FG 42) genutzt. Echte Karabiner erhielten die meisten Fallschirmjäger erst mit der querschnittlichen Einführung der ersten Sturmgewehrgeneration nach dem Weltkrieg (FAL, G3). Der Umstieg auf kleinere Gewehrkaliber in der NATO ab den 1960er-Jahren und in den Warschauer Pakt-Staaten einige Jahre darauf, ermöglichte wesentlich leichtere Konstruktionen. Als Paradebeispiel ist hier die Ultra-Kurzversion der AK-74 (AKS-74U) für Spezialkräfte und Besatzungen von Fahrzeugen zu nennen. Die Entwicklung von Gewehren nach dem Bullpup-Prinzip ermöglichte Waffen in Karabinerlänge bei gleichbleibender Lauflänge – viele Staaten stiegen um. Die in ihren Abmessungen weiter reduzierten Varianten dieser Handwaffen führten zu einer ungeahnten Führigkeit. Auf dem zivilen Markt erfreut sich in den letzten Jahren das „Short Barreled Rifle“ einer fragwürdigen Beliebtheit.

Auch aufgrund der zahlreichen weiteren Ausrüstungsgegenstände führen Spezialkräfte häufig Karabiner mit sich: Hier Fernspäher der Bundeswehr mit dem G36KA4 (Foto: Bundeswehr)


Technik
Aus technischer Sicht stellt die Herstellung eines Karabiners keine komplexe Aufgabe dar. Eine Kürzung der Gesamtabmessungen, die fast immer durch einen kürzeren Lauf erreicht wird, ist hierbei das erste Merkmal dieses Gewehrs. Schub- oder Klappschäfte können die Waffe im Transport noch kompakter gestalten. Geänderte Zubehörteile können mitunter auch notwendig sein. Die Verwendung eines zum Standardgewehr abweichenden Kalibers disqualifiziert die Waffe hingegen als Karabiner. Dies gilt zum Beispiel für den US-amerikanischen M1 Carbine – der ursprünglich als leichte Kompaktvariante des M1 Garand entwickelt wurde. Zu dieser Zeit konnte jedoch keine Lösung gefunden werden, die recht leistungsstarken Patronen im Kaliber .30-06 Springfield aus einer solchen Waffe zu verschießen. Daher wurde eigens das Kaliber .30 Carbine eingeführt. Weiterhin muss dieses Konzept von anderen Ideen abgegrenzt werden. Während der Karabiner auf kein Funktionsprinzip hin definiert ist, weist eine Maschinenpistole beispielweise zumindest die Fähigkeit zum halbautomatischen Feuer auf. Außerdem grenzt sie sich durch die Verwendung einer anderen Kalibergruppe ab. Der Pistolenkarabiner ist schließlich einzig und allein wortverwandt. Er stellt eine Faustfeuerwaffe dar, die durch Zubehörteile schießtechnische Vorteile bietet und gewehrähnlich zu handhaben ist. Der nicht mehr gebräuchliche Begriff Maschinenkarabiner ist eng mit der Entwicklung des Sturmgewehr 44 verknüpft und bezeichnet streng genommen eine halb- oder vollautomatische Kompaktvariante. Merke: Nicht überall, wo Karabiner draufsteht ist auch einer drin.

Dienstwaffen des Autors - Standardgewehr G36A2 (unten) mit 48 Zentimetern Lauflänge und der Karabiner G36KA4 (oben) mit 31,8 Zentimetern


Fazit
Vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten haben einige wenige Staaten damit begonnen flächendeckend die Ausstattung auf Karabiner umzustellen. Ein prominentes Beispiel ist die Ablösung des M16 durch den M4 Carbine in der United States Army. Derzeit sind Sturmgewehre mit einer Lauflänge zwischen 30 und 40 Zentimetern die technische Untergrenze, um Ziele innerhalb des infanteristischen Halbkilometers bekämpfen zu können. Infanteriegewehre mit längerem Lauf haben Leistungsreserven die möglicherweise entscheidend sind. Wer bei Sonnenschein im Frieden mit einem M4 ein Ziel von 50 x 50 Zentimetern geradeso trifft, wird dieses Ergebnis im Gefecht mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht reproduzieren können. Solange reguläre Vollmantelgeschosse verwendet werden, bleibt die Wirkung im Ziel bei diesen Gewehren potentiell reduziert. Durch die geringere Geschossgeschwindigkeit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass eine wünschenswerte Fragmentation eintritt, drastisch. Während ein G36A2 mit der aktuellen Standardpatrone diese Wirkung bis etwa 110 Meter mit hoher Wahrscheinlichkeit bietet, kann ein kompaktes G36KA4 die entsprechenden Werte nur bis 50 Meter Entfernung aufrechterhalten. In vielen Fällen kann der Griff zum „cooleren Aussehen“ also fatale Folgen haben: Der Trend zu immer kürzeren Gewehren ist deutlich zu hinterfragen. Das grundlegende Karabiner-Konzept ist allerdings eine Erfolgsgeschichte die sich weltweit durchgesetzt hat.

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