Der eintägige Präzisionsgewehrkurs mit der etwas unscheinbaren Abkürzung „S4G“ wird von der Schweizer Schießschule NDS durchgeführt. Die Ausbilder zeigen dabei, welches Potential in einer .223 Remington stecken kann.
„Die .223 Remington ist zu schwach und zu seitenwindanfällig, jenseits der 200 Meter zu unpräzise und zielballistisch nahezu über die gesamte Distanz ohne Wirkung. Außerdem ist es völlig ausgeschlossen, mit einem militärischen Selbstladegewehr dieses Kalibers auf 500 Meter reproduzierbare Treffer auf einer Mannscheibe zu generieren.“, solche und ähnliche Aussagen sind hin und wieder zu hören, wenn die Diskussion auf das Kaliber .223 Remington bzw. sein militärischen Pedant 5,56x45 zu sprechen kommt.
Der Kurs „Sniping 4. Generation“ bricht mit vielen Vorurteilen über die .223 und selbst erfahrene Schützen zeigen sich regelmäßig überrascht, zu was die .223 in der Lage ist, so lange der Steuermann hinter der Waffe die Grundfertigkeiten des Schießens richtig anwendet und die Flugbahn seiner Laborierung kennt. Die Ausbilder bei NDS (Neurone Défense Système) sind ausschließlich aktive oder ehemalige Angehörige der Schweizer Armee, die ihr Wissen und Können an eidgenössische Milizionäre oder andere Privatwaffenbesitzer weitergeben. Alle Schieß- und Selbstverteidigungskurse bei NDS sind praxisorientiert und vermitteln ein allgemeingültiges System der Waffenhandhabung. Beim Präzisionsgewehrkurs S4G wird den Teilnehmern die ein oder andere militärische Komponente des Zielfernrohrgewehrschießens nahe gebracht. Das ist methodisch erstens unvermeidlich und zweitens gemessen an der Zielgruppe von NDS auch nicht verwunderlich.
Der Designated Marksman
Die gegenwärtigen kriegerischen Konflikte brachten eine Reduzierung der Gefechtsentfernungen mit sich. Häufig muss im urbanen Terrain gekämpft werden. Aus Analysen der US-amerikanischen Streitkräfte geht hervor, dass die statistisch erwiesene Durchschnittsentfernung beim militärischen Einsatz von Handwaffen unter 100m liegt. Oftmals bei nur 20 bis 30m. Wie schon in der Vietnamkriegs-Ära ist auch seit Beginn des 21. Jahrhunderts wieder eine Tendenz erkennbar, nur aus aktuellen Konflikten und kurzfristigen Ereignissen Rückschlüsse auf die militärische Schießausbildung zu ziehen. In der Folge wurden Schüsse über weite Distanzen nur noch rudimentär ausgebildet. Die US-Streitkräfte begannen vor einiger Zeit, den „infanteristischen Halbkilometer“ zurückzuerobern und ihn wieder in die Schießausbildung zu integrieren. Gemäß dem materialistisch orientierten Denkansatz passiert das in erster Linie durch technische Aufrüstung der vorhandenen Handwaffen. Das Konzept nennt sich bei den Amerikanern Designated Marksman und das Gewehr Designated Marksman Rifle (DMR). Der Designated Marksman ist im Gegensatz zu einem reinen Scharfschützen eingegliedert in seine Gruppe bzw. Kompanie und unterstützt diese sowohl durch präzise Schüsse auf weiter entfernte Ziele als auch durch „normales“ Infanteriefeuer. Die Schweizer hingegen hatten das Konzept des in die Gruppe integrierten Scharfschützen nie aufgegeben. Ganz im Gegenteil, es wurde in den letzten Dekaden konsequent ausgebaut und verbessert. Darüber hinaus besannen sich die Schweizer zu jeder Zeit mehr auf die natürlichen Schießfertigkeiten eines Soldaten, als den Fokus ausschließlich auf die Anschaffung von noch mehr und noch teuerem Material zu legen. Das Resultat wird in dem Eintageskurs S4G zusammengefasst.
Philosophie des S4G
Die Teilnehmer werden für den Kurs mit einer Leihwaffe und Optik ausgestattet und erhalten auch die erforderliche Menge an Munition, um den Kurs absolvieren zu können. Die Philosophie wird durch das Prinzip des Minimalismus geprägt. Zur Teilnahme sind keine Waffen mit Matchläufen erforderlich, genauso wenig wie selbstgeladene Präzisionsmunition oder teure Hochleistungsoptiken. Vielmehr setzt man auf eine Mindestbefähigung des Schützen gepaart mit einer sinnvollen Schießtechnik als wichtigste Einsatzkomponente sowie die Tatsache, dass die Leistungsfähigkeit normaler Selbstlade- bzw. Sturmgewehre oft unterschätzt wird. Das Konzept des Kurses wird durch vier Schwerpunkte getragen:
Einem Sturmgewehr 90 im Kaliber 5,56x45 bestückt mit einem 4-fach vergrößernden Zielfernrohr, der außenballistischen Methode des durchgehenden Visierbereichs (auch Gefechtsfeldvisier oder engl. Battlefield Zero genannt), welcher um einen zweiten Haltepunkt ergänzt wird. Gleiches gilt für die Kompensation von Seitenwind.
Außerdem wird dem Teilnehmer die Routine des schnellen Einzelfeuers anerzogen, sollte der Erstschusstreffer keine Wirkung im Ziel zeigen.
Ferner geht man davon aus, dass ein gut trainierter Schütze aus dem Liegendanschlag heraus eine Durchschnittsstreuung von 1°/°° (ein Promille) reproduzierbar erreichen kann.
Durchschnittsstreuung
Die Durchschnittsstreuung des Gesamtpakets Mensch & Waffe lässt sich in einem standardisierten Verfahren ermitteln.
Aus einer Entfernung von 25m gibt der Schütze 5 Schuss stehend, 5 Schuss kniend, 5 Schuss liegend ab und beginnt danach wieder von vorn bis er insgesamt 100 Schuss verschossen hat. Als Zielmedium dient die 100m-Silhouette auf der Schweizer NGST-Scheibe. Jeder Schuss sollte gezielt abgegeben werden. Trainierte Schützen können hierbei einen Rhythmus von einem Schuss pro Sekunde halten.
Im Normalfall zeigt sich nach Abschluss der Schießübung ein handtellergroßes Loch in der Scheibe umrahmt von einigen Ausreißern. Bei durchschnittlichen Schützen liegen weniger als 25% der Schüsse außerhalb der Trefferzone. Diese Schießübung sollte vor allem als didaktisches Mittel verstanden werden, um zu untermauern, dass die Durchschnittsstreuung aus allen drei Schießpositionen ausreicht, um mit 75 bis 80%iger Wahrscheinlichkeit einen Erstschusstreffer auf ein 100m entferntes Ziel platzieren zu können.
Will man seine persönliche Durchschnittsstreuung für jede Schießposition ermitteln, ist etwas mehr Aufwand erforderlich. Für den Liegendanschlag wären 25m bis zum Ziel auch zu kurz gegriffen. Hier sollten es 100m oder mindestens 50m sein. Gut ausgebildete Schützen, die in der Lage sind Grundfertigkeiten des Schießens umzusetzen, Referenzpunkte zwischen Mensch und Waffe sowie den Natürlichen Zielpunkt nutzen, erreichen im Liegendanschlag eine Durchschnittsstreuung von 0,5°/°° oder 1°/°°. Bei 1°/°° ist der Schütze in der Lage, auf 600m Entfernung ein Quadrat von 60cm mal 60cm sicher zu treffen.
Ziel dieser Übung ist des Weiteren aufzuzeigen, dass man nicht immer die „10“ treffen muss und das statistisch gesehen auch nicht kann. Für den Schützen ist diese Durchschnittsstreuung ein Helfer, im militärischen Umfeld eine extrem hohe Trefferquote zu erreichen. Ein weiteres Hilfsmittel dafür ist das Schnelle Einzelfeuer.
Schnelles Einzelfeuer
Die Schweizer Armee bildet ihre Soldaten vom ersten Tag der Schießgrundausbildung darin aus, das Ziel mit schnellem Einzelfeuer zu beschießen, wenn der erste Schuss keine Wirkung im Ziel gezeigt hat. Dazu gibt der Soldat fünf gezielte Schuss mit einem Rhythmus von etwa zwei Schuss pro Sekunde ab. Diese Methode besitzt eine deutliche Abgrenzung zum US-amerikanischen „Spray & Pray“ – dem schnellen Schießen in die grobe Richtung des Ziels. Beim schnellen Einzelfeuer macht sich der Schütze auch wieder eine sauber erlernte Schießtechnik und den Natürlichen Zielpunkt zu Nutze. Wichtigste Voraussetzung ist selbstverständlich eine korrekte Abzugskontrolle. Durch Reißen am Abzug würde sich die Durchschnittsstreuung um ein Vielfaches ausdehnen und dem Konzept des S4G zuwiderlaufen. Im Kurs zeigte sich, dass die Feuerart des schnellen Einzelfeuers über den gesamten Entfernungsbereich von Null bis 600m Erfolg versprechend anwendbar sein kann.
Durchgehender Visierbereich
Die Einschießmethode des durchgehenden Visierbereichs (Waffenkultur 05, Seite 30) bedeutet, ein Gewehr so einzuschießen, dass der Schütze über eine möglichst große Entfernung nur eine Visiereinstellung und einen Haltepunkt nutzen kann und das Projektil während des gesamten Flugbahnverlaufs nicht höher steigt, als die halbe Zielhöhe. Die „halbe Zielhöhe“ ist dabei die Determinante. Es wird unterstellt, das Ziel sei etwa 40cm hoch. Bei einem modernen Sturmgewehr im Kaliber .223 Remington lässt sich somit ein durchgehender Visierbereich von Null bis 300m realisieren. Das reicht für eine Anwendung im Konzept des S4G aber nicht aus. Abhilfe schafft die Wahl eines zweiten Haltepunktes.
Im Kurs werden die Gewehre auf 25m Fleck angeschossen. Bei einer Visierlinienhöhe von etwa 85mm hat das Geschoss einen sehr steilen Abgangswinkel, was im mittleren Entfernungsbereich zwischen 200 und 300m zu einer enormen Scheitelhöhe von bis zu über 30cm führt. Der Schütze nimmt in diesem Bereich (bis etwa 400m) einen zweiten Haltepunkt zu Hilfe. Er lässt den Oberkörper des Gegners aufsitzen. Die Faustregel ist: Kann man durch das ZF Details an der Uniform erkennen, ist der Entfernungsbereich „mittel“. Kann man diese Details nicht mehr erkennen, ist das Ziel „weit“ entfernt. Der Soldat wählt einen Haltepunkt, bei dem das Ziel fast vollständig verdeckt wird.
Die einfache Methode des durchgehenden Visierbereichs wird lediglich durch eine Komponente erweitert. Mühsames und zeitaufwendiges Entfernungsschätzen erübrigt sich. Ebenso ist der Schütze nicht gezwungen, während des Feuergefechts an Stellschrauben seines Zielfernrohrs zu drehen.
StG90 und 4-fach Optik
Der Veranstalter NDS stellt jedem Teilnehmer ein Sturmgewehr 90, welches mit dem Waffentyp der SIG 550-Serie nahezu identisch ist. Alle Waffen sind mit einem 4-fach vergrößernden Zielfernrohr militärischer Fertigung und älterer Bauart ausgestattet. Die Optiken besitzen einen Zielstachel als Absehen. Gemessen an den Optionen, die der Markt heutzutage in Bezug auf Präzisionsgewehre bereithält, scheint diese Komposition ihrer Zeit hinterher zu hinken. Dennoch genügen sowohl Waffe als auch Optik den Anforderungen des Kurses und ermöglichen Treffer bis zu einer Entfernung von 600m.
Kursablauf
Der Eintageskurs beginnt mit dem Einschießen der Waffen. Die Teilnehmer nutzen dafür einen 25-m-Kurzwaffenschießstand. Das Einschießen erfolgt aus liegender Position heraus. Ein Rucksack dient als einzige Unterstützung zur Stabilisierung der Waffe. Angestrebt wird ein Fleckschuss auf 25m mit einer Schusslochgruppe, die sich von einem 2-Euro-Geldstück abdecken lässt. Das Gespann Waffe, Munition & Mensch könnte eine weit bessere Präzision erreichen. Das widerspricht aber dem Prinzip des Minimalismus, dem sich NDS verschrieben hat. Die Ausbilder achten allerdings sehr genau auf eine korrekte Abzugsmanipulation bei den Teilnehmern. Um den relativ langen Abzugsweg eines SIG-Sturmgewehrs beherrschen zu lernen, wird gelehrt, den Abzug bewusst bis zum hinteren Anschlag zu drücken und in einer kontrollierten Bewegung nach vorn gleiten zu lassen. Über den gesamten Weg behält der Abzugsfinger ständig Kontakt zum Abzug.
Beim Einschießprozess wird so vorgegangen, als ob die Rast- bzw. Verstellmaße aller Zielfernrohre unbekannt sind. Für den Schützen ist das methodisch sinnvoll, bekommt er doch so eine Methodik gelehrt, jedes ihm unbekannte Zielfernrohr mit einem Minimum an Aufwand einjustieren zu können.
Im Laufe des Vormittags werden alle Aspekte des Schießkonzepts S4G im dialogischen Prinzip erarbeitet. Beispielsweise wird erörtert, wie lange ein Schütze braucht, um mit seinen Mitteln die Entfernung zu einem Objekt auszumachen. Demgegenüber wird das S4G-Konzept der „nahen“ und „weiten“ Distanz im scharfen Schuss angewandt. Gleiches gilt für das Feststellen des Seitenwindes mit herkömmlichen Mitteln. Das S4G-Konzept arbeitet auch hier wieder mit nur zwei Haltepunkten. Je nach Windstärke und Entfernung zum Ziel.
Nach der Mittagspause verlegen die Teilnehmer unmittelbar auf die 600-m-Bahn. Aus der Schießposition Liegend aufgelegt werden alle Aspekte des S4G-Konzepts in die Praxis umgesetzt. Zum Erstaunen manch eines Teilnehmers fallen die Klappscheiben am Ende der 600m Bahn tatsächlich um. Trotz des immer als leistungsschwach titulierten Kalibers .223 Remington.
Fazit
Strebt man als Gewehrschütze ein möglichst breites Basiswissen an, ist der Präzisionsgewehrkurs S4G ein wichtiger Stein im Gesamtpuzzle der persönlichen Weiterbildung. Der Kurs ist methodisch sehr gut aufgebaut und führt zu einer nachhaltigen Verbesserung der Schießtechnik. Die individuelle Erfahrung, einen .223-Remington-Selbstlader erfolgreich über eine Distanz von bis zu 600 Metern eingesetzt zu haben, ist für das Selbstvertrauen jedes Schützen nützlich.
Alle wesentlichen Erkenntnisse des Kurses sind in dem 50 seitigen Buch „Le sniping de 4ème génération“ von Philippe Perotti zusammengefasst. Das Buch ist nur in französischer Sprache erhältlich.
In der Waffenkultur wird jedesmal das entsprechende Buch in deutscher Sprache beworben. Leider brachte weder eine intensive Recherche im Internet noch eine direkte Anfrage beim NDS die Möglichkeit zu Tage, das Buch irgendwo zu beziehen. Können Sie mir da weiterhelden Herr Hoffmann?
AntwortenLöschenLeider gehöre ich zu den Menschen welche in der Schule Latein geniessen durften. Somit bleibt mir das französiche vollständig verschlossen...
Wir arbeiten daran.
LöschenEs gab Verzögerungen.
Sobald es erhältlich ist, wird es auch eine Bezugsquelle geben.
An einer deutschen oder englischen Ausgabe wären sicher viele interessiert.
AntwortenLöschenAktueller Stand:
Löschenhttp://feuerkampf-und-taktik.blogspot.de/2012/11/s4g-das-buch.html