Montag, 14. Juni 2021

Infanterieporträt (1): Die Chindit

 

In einer neuen Artikelreihe stellen wir ausgewählte Infanterieeinheiten und ihre Gewehre vor. In unserem ersten Porträt verschlägt es den Leser zu den Chindit nach Südostasien


Von Christian Väth

Abgeleitet vom burmesischen Chinthe, einem löwenähnlichen Tempelwächter, nannten sich die Soldaten eines ab 1942 aufgestellten britischen Infanterieverbandes Chindit. Der Ausbildungs- und Führungsstab unter ihrem Kommandeur Orde Wingate entwickelte in den folgenden Kriegsjahren Verfahren für eine flexible Dschungelkriegführung. Ihre Struktur und ihr Einsatz gelten seither als Blaupause für alle westlichen Einheiten, die sich auf ein solches Umfeld vorbereiten müssen. Ihre neuen Taktiken mussten die Chindit mit der regulären Infanteriebewaffnung umsetzen – vor allem mit dem Lee-Enfield Gewehr.

Schnittmodell eines Lee-Enfield No. 4 Mk. I:
Anders als beim vorhergehenden SMLE Mk. III endet
der Lauf nicht direkt mit dem Schaft (Foto: Royal Armouries)


Standardgewehr
Mit dem Lee-Enfield Gewehr führte Großbritannien als erste große Nation ein verkürztes Standardgewehr ein. Für den Infanteristen, so die gängige Meinung der Zeit, wurde zwingend eine Waffe mit möglichst langem Lauf benötigt. Im Dezember 1902 offiziell als Short, Magazine Lee Enfield Rifle (Korrekte Bezeichnung immer mit Komma nach Short, abgekürzt: SMLE Rifle) eingeführt, blieb es in verschiedenen Modifikationsstufen bis in die 1950er-Jahre im Dienst. Ab 1906 wurde die Variante Mk. III millionenfach gefertigt. Sie ist leicht an ihrem markanten Vollschaft in Stutzenform erkennbar. Mit einem zehn Patronen fassenden Magazin, hoher Robustheit und seinen kompakten Abmessungen eignete es sich hervorragend als Infanteriegewehr. Die englische Schießausbildung legte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts großen Wert auf Präzision bei schnellen Schussfolgen mit Zielwechseln und nutzte damit die Möglichkeiten des SMLE Rifle voll aus. Die hohe Leistungsfähigkeit britischer Gewehrschützen zeigte sich dann auch in den ersten Kriegswochen 1914. In den Zwischenkriegsjahren änderte sich wenig an der bewährten Gewehrausbildung. Kurz vor Kriegsbeginn wurde die Version No. 4 Mk. I eingeführt. Im Zweiten Weltkrieg kamen alle Varianten des SMLE zum Einsatz, da vor allem in den ersten Kriegsjahren jedes britische Gewehr dringend benötigt wurde. Die Waffen wurden außerdem in Lizenz im Ausland gefertigt, so beispielsweise in Australien (Lithgow). In beiden Weltkriegen und im Koreakrieg wurden außerdem erhebliche Mengen zu Scharfschützengewehren umgerüstet. In dieser Rolle blieb das Lee-Enfield auch weit über seine Ausmusterung als Standardgewehr hinaus im Einsatz.

Einsatzraum Südostasien
Mit dem japanischen Angriff auf den US-amerikanischen Marinestützpunkt Pearl Harbour am 7. Dezember 1941 begann der Pazifikkrieg. In wenigen Monaten brachten die japanischen Streitkräfte den gesamten Westpazifik unter ihre Kontrolle und erschwerten durch die Einnahme Burmas alliierte Unterstützung der Chinesen. Die Streitkräfte des Commonwealth konnten mit Mühe eine Front in Ostindien halten und Australien bereitete sich auf eine mögliche Invasion vor. Die zahlreichen Niederlagen, die japanische Luft- und Seeüberlegenheit sowie die gnadenlosen Umweltbedingungen demoralisierten die alliierten Truppen in diesem Operationsgebiet. Unter Generälen und Soldaten baute sich der Mythos vom unbesiegbaren japanischen Soldaten aus, der sich angeblich von Natur aus besser für den unerbittlichen Kampf im Dschungel eignete. Tatsächlich profitierten die japanischen Kommandeure von einer auf Mobilität ausgelegten Struktur ihrer Infanterieverbände und der Zähigkeit ihrer Männer. Diese war weniger von Natur aus gegeben, als das Ergebnis einer harten Ausbildung, enormer Disziplin und den kulturellen Besonderheiten der japanischen Gesellschaft. Den gut vorbereiteten Japanern standen hauptsächlich alliierten Garnisonkräfte gegenüber, die durch die Kämpfe in Europa und Afrika von geringer Zahl und eher dürftig ausgerüstet waren. Auch die Ausbildung dieser Einheiten war für den die Pazifikregion eher ungenügend. Geräte und Waffen wurden für den europäischen Kriegsschauplatz gefertigt und waren deshalb nur bedingt für die hohe Luftfeuchtigkeit geeignet. Britische Waffenkammern hatten zu dieser Zeit nur leidliche Kompromisse anzubieten. Die Sten-Maschinenpistole war zwar weit verbreitet, kompakt und von geringem Gewicht, allerdings zeigte das Pistolenkaliber im dichten Dschungel nicht die gewünschte Penetrationsleistung. So wurden vermehrt „leichte“ Bren-Maschinengewehre eingesetzt, die über eine höhere Feuerkraft verfügten. Die bekannte Zuverlässigkeit der Bren bestätigte sich auch in Burma. Dafür sorgten einige Konstruktionsmerkmale, die sich noch heute in Gebrauchswaffen finden lassen: Schnell wechselbarer Lauf, verstellbare Gasabnahme und verschließbarer Hülsenauswurf. Allerdings war das Maschinengewehr tschechischen Ursprungs mit über zehn Kilogramm kein Leichtgewicht. Das sehr robuste SMLE zeigte noch den geringsten Pflegeaufwand unter den vorherrschenden klimatischen Bedingungen. Die hohe Luftfeuchtigkeit forderte das Material mangels moderner Oberflächenbeschichtung trotzdem. In der Einsatzausbildung wurde der Reinigung und Pflege aller Handwaffen daher zu Recht besondere Aufmerksamkeit gewidmet.

SMLE Mk. III von 1918 mit Granatbecher
für Mills-Granaten (Foto: Royal Armouries)


Einsatzkonzept
Die Chindit waren reguläre Infanteriekräfte, die in Britisch-Indien eine intensive Spezialausbildung durchliefen. Das Einsatzkonzept (long-range penetration) stammte von Orde Wingate - einem britischen Offizier, der bereits in Britisch-Palästina und Äthiopien umfangreiche Erfahrungen in unkonventioneller Kampfführung sammeln konnte. Dort unterstand er General Archibald Wavell, dem Kommandeur des Middle East Command. Als dieser das India Command übernahm und nun den angreifenden Japanern gegenüberstand, forderte er Wingate an, um dessen Konzept der Tiefenpenetration auch in Burma anzuwenden. Die dort eingesetzten Einheiten sollten Kommunikations- und Transportnetze des Gegners angreifen und so eine Verstärkung der Sicherungsmaßnahmen erzwingen, um zunehmend Kräfte jenseits der Front zu binden. Dazu sickerten sie sowohl im Landmarsch durch den Dschungel als auch per Luftlandung und -transport in ihre Einsatzräume ein. Vor Ort wurden sie dann für bis zu 90 Tage ausschließlich aus der Luft versorgt. Ein dauerhafter Kampf als Guerillatruppe oder eine Ausbildung der indigenen Bevölkerung vor Ort war nicht vorgesehen. Neben dem Dschungelkampf gegen die Japaner stellten Krankheiten und die klimatischen Bedingungen besondere Anforderungen an das Personal. Der erste Einsatz der Chindit, Operation Longcloth ab Februar 1943, war zeitgleich die erste erfolgreiche Offensivoperation der Alliierten im Pazifikkrieg überhaupt und hatte einen nicht zu unterschätzenden Effekt auf die Moral der Truppen.

Die Chindit
Nur fünf Prozent der Männer unter Wingate waren Freiwillige. Die ersten Dschungelkampfeinheiten wurden aus der 77th Indian Infantry Brigade geformt, die bei Ausbildungsbeginn im Sommer 1942 aus drei Verbänden bestand. Das 13. Battalion des King’s Regiment bestand ausschließlich aus Einwohnern Liverpool’s, vorwiegend aus älteren Jahrgängen. Dazu kamen ein gerade erst neuaufgestelltes Gurkha-Bataillon und das zweite Bataillon der Burma Rifles, welches vorwiegend aus weißen Einwohnern Britisch-Indiens und Burmesen rekrutiert wurde. So dienten in dieser Brigade Briten, Inder, Nepalesen, Burmesen und Kolonialbriten. Dabei wurde vor allem dem Liverpooler Regiment von einigen höheren Offizieren von vornherein die Eignung zum Dschungelkampf abgesprochen. Traditionell wurden in tropischen Regionen Kolonialtruppen aus Indien und Afrika unter britischer Führung eingesetzt, die Ausbildung von Briten aus dem Heimatland für eine solche Umgebung hielten viele Offiziere für eine wahnwitzige Idee. Für die zweite, deutlich größere Operation 1944 wurde das Truppenkontingent vervielfacht: Insgesamt wurden Wingate sechs Brigaden unterstellt, davon drei aus der kampferprobten 70th Infantry Division des Middle East Command. Ergänzt wurde der beschriebene Personalkörper durch Kaderpersonal der ehemals in Burma gelegenen Bush Warfare School. Einige Ausbilder dieser Schule, allen voran der Offizier James Michael „Mad Mike“ Calvert, unterstrichen ihre Reputation, indem sie sich nach dem verheerenden Angriff der Japaner bis nach Britisch-Indien durchschlugen. Trotz aller Vorbereitungen erlitten die Chindit stets schwere Verluste. Während durch Kampfhandlungen mit den Japanern weniger Kämpfer ausfielen als erwartet (15 anstatt 35 Prozent), war die Ausfallrate durch Krankheiten deutlich höher als angenommen (70 anstatt 50 Prozent). Durchschnittlich kehrten nur etwa zehn Prozent der Kolonnen halbwegs einsatzbereit zurück. Fast jeder Überlebende erkrankte bis zum Ende eines Einsatzes an Malaria.

Enfield-Generationen: SMLE Mk. III aus dem Ersten Weltkrieg
und aus den Zwischenkriegsjahren, Lee-Enfield No. 4 Mk. I
und No. 5 Mk. I (Foto: Imperial War Museum)


Ausbildung
Orde Wingate war davon überzeugt, dass jede beliebige Einheit durch eine entschlossene Führung, eine realitätsnahe Ausbildung und intensives körperliches Training für eine Operation nach seinem Konzept befähigt werden konnte. Die Vorbereitungsdauer war angesichts der Aufgabe mit 20 Wochen nicht sonderlich lang. Die Chindit erhielten in dieser scheinbar kurzen Zeit allerdings ausschließlich relevante Ausbildung mit unmittelbarem Praxisbezug. Wingate fungierte selbst als Ausbildungsleiter. Gemeinsam mit einigen handverlesenen Offizieren und Unteroffizieren formte er aus der Brigade im zentralindischen Urwald insgesamt acht sogenannte Kolonnen zu je etwa 300 Mann. Bei der Ausbildung der eingeteilten Führer legte er besonderen Wert darauf, dass jede Entscheidung durch den Kolonnenführer ruhig und sachlich allen Männern unter Anführung der Vor- und Nachteile präsentiert wurde. Diese umfangreichen Befehlsausgaben sollten Führungsentscheidungen für jeden nachvollziehbar gestalten und den Zusammenhalt fördern. Wingate war dafür bekannt, bei den Abschlussübungen der Ausbildungsphasen die eingeteilten Führer gnadenlos auszuwerten und bei Bedarf auszutauschen, sollten diese nicht seine Standards erfüllen können. Jeder Chindit wurde an allen Waffen und Geräten, die mitgeführt wurden, ausgebildet. So sollten Verluste in der isolierten Kampfgemeinschaft besser kompensiert werden. Wingate war auch der festen Überzeugung, dass jeder Soldat sein eigener Sanitäter sein musste und ließ dementsprechend eine erweiterte Ersthelferausbildung sowie tropenmedizinische Anteile in das Curriculum einfließen. Von jedem Einzelnen wurde außerdem eine enorme körperliche Leistungsfähigkeit verlangt. Höchst anstrengende, tagelange Fußmärsche durch dichten Dschungel über viele Höhenmeter waren die Regel. Dem Ausbilderkorps war von Beginn an die extreme physische Belastung bewusst, der die Männer ausgesetzt sein würden. Anders als es anhand regulärer Dienstvorschriften vorgesehen war, konnte kein Kolonnenführer ausgeruhte Truppen im Gefecht führen. Es soll sogar Feuergefechte gegeben haben, bei denen einzelne Soldaten trotz des Lärms einfach in der Stellung einschliefen.

Spezialumbau von 1916 für den Grabenkrieg für den Schuss
aus der vollen Deckung (Foto: Royal Armouries)


Das SMLE im Urwald

Bei den Feuergefechten der Chindit kam es in fast allen Fällen zu drei ganz bestimmten Formen des Gefechts. In der ersten Operation dominierte das Begegnungsgefecht auf kurze und kürzeste Entfernung sowie der spontane Feuerüberfall mit geringer Vorbereitungszeit. Im zweiten Unternehmen 1944 kam es vor allem zu sehr harten Kämpfen um die errichteten Stützpunkte unter massiver Nutzung schwerer Infanteriewaffen und Luftunterstützung. Wie geeignet war das SMLE Rifle für dieses Aufgabenspektrum? Begegnet man einem Gegner im Nahbereich kommt es auf Schnelligkeit an. Der treffsichere und schnelle erste Schuss ist maßgeblich. Durch seine kompakte Bauweise eignete sich das britische Standardgewehr verglichen mit anderen Infanteriegewehren hier besser. Allerdings waren solche Duellsituationen kaum Bestandteil der damaligen Schießausbildung. Wer also mit dem ersten Schuss nicht treffen konnte, musste zu einer halb- oder vollautomatischen Waffe greifen, um diesen Mangel durch ein entsprechendes Feuervolumen kompensieren zu können. Genau das wurde durch die verstärkte Nutzung von leichten Maschinengewehren, Maschinenpistolen und halbautomatischen Gewehren auch gemacht. Der eigentlich naheliegende Einsatz von Flinten ist für die Chindit nicht in nennenswertem Umfang nachgewiesen. Bei US-amerikanischen Sondereinheiten und der US-Marineinfanterie waren sie im Pazifik jedoch weit verbreitet. Für den spontanen Feuerüberfall eignete sich sowohl das SMLE als auch die Ausbildung der britischen Gewehrschützen sehr gut, entsprechend hoch waren die japanischen Verluste in diesen Gefechtssituationen. Der Kampf um die Dschungelstützpunkte hingegen geschah nicht ad hoc und konnte meist über Tage oder gar Wochen vorbereitet werden. Aus einer vorbereiteten Stellung mit freigeschlagenem Schusskanal konnte der Soldat mit seinem SMLE vernichtende Wirkung entfalten. Insgesamt waren alle Gefechtsaufgaben mit dem Standardgewehr lösbar, allerdings ist es verständlich, dass an der Spitze einer Kolonne eher automatische Handwaffen zum Einsatz kamen.

Technische Anpassung an die Umwelt

Der britischen Rüstungsindustrie gelang es nicht, zu Kriegszeiten eine geeignete, spezialisierte Bewaffnung für den südostasiatischen Dschungel zu liefern. An Versuchen hat es jedoch nicht gemangelt. Belegt ist beispielsweise die Herstellung von Prototypen bereits eingeführter Waffen, bei denen möglichst viele Bauteile durch weniger rostanfällige Materialien ersetzt wurden. Auch eine Spezialversion des Standardgewehres kam zum Einsatz: das Rifle No. 5 Mk I. Auf dem historischen Waffenmarkt wird dieses Gewehr als „Jungle Carbine“ bezeichnet, wobei umstritten ist ob dieser Begriff im Zweiten Weltkrieg breite Verwendung fand. Im Wesentlichen handelte es sich dabei um ein um 12,7 Zentimeter verkürztes No. 4 (Lauflänge 52,1 Zentimeter). Der charakteristische konische Mündungsfeuerdämpfer erforderte auch die Einführung eines eigenen Bajonetts. Trotz einer dicken Schaftkappe aus Gummi war der Rückstoß wohl unangenehm und die Waffe wurde von der Truppe nie wirklich akzeptiert. Allerdings muss sie sich ganz hervorragend zum Verschießen von Granaten aus der Schulter oder (angestellt wie ein Mörser) vom Boden geeignet haben. Bis zu 230 Meter weit war ein gezielter Treffer nach Gefechtsberichten der Chindit wohl möglich. Dazu wurde eine zusätzliche Schaftkappe aufgezogen und ein Mörservisier montiert.

Mit Wangenauflage modifiziertes SMLE Mk. III für den
Scharfschützeneinsatz (Foto: Imperial War Museum)


Fazit
Der Einsatz der Chindit in Burma zeigte, dass keine der eingesetzten Feuerwaffen uneingeschränkt für ein tropisches Umfeld mit wechselnden Kampfentfernungen geeignet war. Entweder war die Feuerkraft zu gering oder das Gewicht zu hoch. Über ein Sturmgewehr konnten die Briten nicht verfügen. Doch auch der Vietnamkrieg einige Jahrzehnte später zeigte, dass auch diese Lösung kein Allheilmittel ist, solange die Ausbildung nicht realitätsnah ist. Mangels geeigneter Zieldarstellung, Wissen und Erfahrung um zeitkritische Bekämpfungsvorgänge konnte die zeitgenössische Schießausbildung den Soldaten nicht hinreichend auf Duellsituationen im Dschungel vorbereiten. Allerdings hatte diese Lücke nur einen geringen Einfluss auf die Kleingruppentaktik und war für den Ausgang der Operationen bedeutungslos. Die Fähigkeit Vernichtungshinterhalte durchzuführen war hingegen von Bedeutung. Hier brillierten die britischen Soldaten durch eine Ausbildung, die sichere Treffer in schneller Folge zum Ziel hatte. Genau für diesen Zweck wurden das SMLE und seine Varianten gefertigt und mit Erfolg verwendet.

Mehr dazu in Waffenkultur Nr. 58

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